Zitty Kritik (7/2014): König Ubu

Literaturgeschichtlich gilt Alfred Jarry mit seiner Ubu-Figur als der Erfinder des absurden Theaters, das Wahrscheinlichkeit und Logik aufhebt und das Theater gänzlich neu als surreale Gegenwelt zur Wirklichkeit gestaltet. Ubu, 1896 geschrieben, veralbert und verdreht die Machtspiele. Wie im Kasperltheater ist der Herrscher, der Polen erobert, nichts weiter als ein verzeichneter Unhold, der eigentlich nur fressen will. Um so überraschender, wie das Ensemble enkido im Stadtbad Steglitz das Stück gestaltet. Friedhelm Ptoks weißhaariger Ubu ist ein lauter, harter, ganz realistisch gezeichneter Diktator im braunen Anzug, die junge machtlüsterne Mère Ubu, die aus einem stummen Diener heraussteigt: die Drahtzieherin. In welche Welt ist man hier geraten, vielleicht in das Kiew vor dem Aufstand? Vier Darsteller zeigen in einer präzisen, reduzierten Dramaturgie die Mechanik der Macht und ihre fatalen Folgen. Da passiert der Mord, der Staatstreich, das geht ruckzuck, eine kurze Prügelei; das Publikum folgt den Spielern in die Katakomben des Bades: Die nächste Station ist der Keller, die Verhöre. In der oberen Etage, hier residiert die Macht, findet eindringlich ein unheimliches Schattenspiel im roten Samt statt. Ubus Schicksal lässt in dieser mechanischen Welt der Kellerflure nicht lange auf sich warten; da sitzt er entthront im Heizungskeller und hofft, dass Mère Ubu ihm beisteht. Klug, wie die Räume in dieser Inszenierung gleichsam mitspielen. Spannender Politkrimi.

Axel Schalk

 

Berliner Morgenpost 23.07.2013: Pizza-Man

Pech für den Pizza-Man

Ein Tag zum Heulen: Julie wurde gefeuert, weil sie ihrem Chef sexue3ll nicht entgegenkam. Alice wurde von ihrem Langzeitlover verlassen. Die Stimmung ist mies in der Zweier-WG, und schuld an allem sind mal wieder die Männer. Daher beschließen Julie und Alice, sich stellvertretend an einem Mann zu rächen, ihn zu vergewaltigen. Das Opfer scheint gefunden, als Eddie eine Pizza mit Extra-Käse liefert.

Mit der Berliner Erstaufführung von Darlene Craviottos „Pizzaman“ in der alten Näherei ist dem Theater im Stadtbad Steglitz wieder ein echter Coup gelungen. Beatrice Murmanns Inszenierung nutzt Klischees bekannter Fernsehformate, spielt mit medialen Versprechen und mit Alltagsfrust. Doch im echten Leben erweisen sich Sitcom-Lacher aus dem Off als unpassend.

Selbst wenn sich Julie (Julia Romanova) und Alice (Katja Rosin) immer mal wieder in piepsende Girlies verwandeln, hohle Phrasen dreschen können sie deshalb noch lange nicht. Aus ihrem Mund kommt nur die herbe Wahrheit. Natürlich läuft auch die geplante Vergewaltigung von Eddie (Markus Sulzbacher) aus dem Ruder.Zwar landet der Pizzabote gefesselt auf dem Sofa, doch statt Sex wird geredet. Toll besetzt, witzig, dramatisch und spannend. Ein richtig guter Theaterabend.

boro

 

Neues Deutschland 2.08.2013: Pizza-Man

Die Männerwelt – kühles Blau, in dem ein großer Hai seine Zähne fletscht. Eine Treppe höher die Frauenwelt: ein (Alb-)Traum in Pink, selbst Sofa und Flokati_teppich leuchten rosarot, die Klamotten der beiden damen sowieso. So schamlos übertrieben wie das Bühnenbild ist das ganze Stück. Spaß macht es aber trotzdem – oder gerade deshalb: Als greller Mix aus Geschlechterkomödie und Mediensatire entpuppt sich „Pizzaman“ im Stadtbad Steglitz.

Verfassthat das Stück die mehrfach preisgekrönte amerikanische Drehbuchautorin Darlene Craviotto, die lange unter Agoraphobie litt und darüber auch ein Buch schrieb. Ihren Stücken ist die Angst vor dem Leben „draußen“ nicht anzumerken – leichtfüßig und witzig sind die Dialoge, auch wenn das Thema durchaus ernst ist.

Im „Pizzaman“ geht es zwei ganz normale Frauen, die sich eine Wohnung teilen und eines Abends beide gleichermaßen unzufrieden und wütend sind: Die naive Alice (Katja Rosin) steht plötzlich ohne ihren verheirateten Langzeit-Lover da, die blonde Julie – gespielt von Julia Romanova, die übrigens die Idee zu der Inszenierung hatte – hat am selben Tag ihren Job verloren, da sie nicht mit ihrem Chef ausgehen wollte. Rachdürstig beschließen die beiden, es der Männerwelt heimzuzahlen. Da kommt der selbstbewusste Pizzabote (Markus Sulzbacher) ein echter Macho, gerade recht.

Geschickt spielt Regisseurin Beatrice Murmann mit Klischees und Erwartungshaltungen, schießt in schnellen Szenen und Dialogen gegen leicht konsumierbare Lebensphilosophien ebenso wie gegen die Macht der Massenmedien und unterlegt das ganze mit Musik. Gleichzeitig nutzt Murmann den Stil billiger Doku-Soaps aus dem Privatfernsehen, um das vor Jahrzehnten geschriebene Stück zu modernisieren.: Immer wieder wird die Handlung durch ein schrilles „Piep“ unterbrochen und im übertriebenen RTL2-Jargon rekapituliert – ein Kunstgriff, der allerdings ein wenig sparsamer hätte eingesetzt werden können. Insgesamt ist „Pizzaman“ jedoch ein durchaus amüsant-nachdenkliches Stück Sommertheater, gut gespielt und inszeniert.

Anouk Meyer

 

Berliner Morgenpost 6.12.2012: Bunburry

Salonkomödie im alten Gemäuer

Im Stadtbad Steglitz erlebt die Verwechslungskomödie "Bunbury" von Oscar Wilde derzeit eine Renaissance. Die Salonkomödie aus dem 19. Jahrhundert wird in der Kulisse des alten Jugendstilbades in die heutige Zeit transportiert.

In Oscar Wildes Stück genießen die Gentlemen Algernon und Jack ein Doppelleben. Die beiden sind ausgesprochene Lebemänner, die sich in ihrer Freizeit dem Vergnügen hingeben. Um diese Leidenschaft mit ihrem gesellschaftlichen Rang vereinbaren zu können, haben sie eine Ausrede erfunden. Algernon begründet seine Landpartien mit Krankenbesuchen bei seinem erfundenen Freund Bunbury. Jack bringt seinen fiktiven Bruder Ernest ins Spiel, um ab und zu in die Stadt kommen zu können. Als beide sich in ihrer jeweils erfundenen Identität verlieben, wird es problematisch.

Der Originaltitel "The Importance of Being Earnest" - auf Deutsch etwa "Die Bedeutung, Ernst zu sein" - beruht auf einem Wortspiel. Earnest bedeutet "aufrichtig", gleichzeitig ist Ernest der Vorname des erdachten Bruders von Jack. Die Komödie gehört zu den erfolgreichsten Stücken Wildes, in denen er geistreich und ironisch die Herren und Damen der Oberschicht attackierte. Wilde selbst sieht Bunbury als seine beste Komödie. Kritiker meinten: Das Stück brilliert durch Sprachwitz und exzellent kalkulierter Situationskomik. In der Inszenierung der Verwechslungskomödie werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die das alte Bad als Kulisse bietet. Gespielt wird an drei Orten: in der Wäscherei, der Näherei und im Café Freistil. Regisseurin Beatrice Murmann begnügt sich nicht damit, das Stück nachzubuchstabieren. Vielmehr versetzt sie die Salonkomödie in die heutige Zeit. Dabei gelingt es ihr, das mondän wirkende Stück auf ungewöhnliche Weise und mit hintergründigem Humor in die alles andere als mondänen Räumlichkeiten hineinzuversetzen.

Karla Menge

 

Neues Deutschland 17.12.2012: Bunburry

Geistreiches Geplänkel

Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit häufen sie sich wieder, die Einladungen, auf die man so gar keine Lust hat: essen bei entfernten Verwandten zum Beispiel, Vereins- oder Betriebsfeiern. Vielleicht sollte man sich ein Beispiel nehmen an den Protagonisten in Oscar Wildes geistreicher Komödie „ Bunbury. Über die Bedeutung ´ Ernst ´ zu sein “. Die beiden Lebemänner Algernon und Jack haben eine Dauerausrede parat, wenn die gesellschaftliche Pflicht ruft.

Unabhängig voneinander hatten die beiden Upper-Class-Herren eine ähnliche Idee. Algernon, genannt Algy, begründet seine Absagen mit Krankenbesuchen bei einem invaliden Freund namens Bunbury, den es in Wirklichkeit natürlich gar nicht gibt. Kumpel Jack rechtfertigt die häufigen Ausflüge in die Stadt mit seinem ebenso fiktiven Bruder Ernst, der ständig in Schwierigkeiten gerät. Ein praktisches Arrangement, dass den beiden Männern erlaubt, sich ihrem Vergnügen hinzugeben, so oft sie wollen.

Doch als Algy auf Jacks Wohnsitz auftaucht und sich in dessen Mündel Cecily (Julia Romanova) verliebt, wird es kompliziert – schließlich denkt die naive junge Frau, sie hätte den leichtsinnigen Ernst vor sich. Jack geht es mit seiner Angebeteten Gwen (Christiane Marx) nicht anders, hatte er sich ihr doch einst als Ernst vorgestellt. Ausgangspunkt für jede Menge Missverständnisse und Streitigkeiten, bei denen die Stimmen zwar nie erhoben, dafür aber umso spitzer werden.

Oscar Wilde hielt sein siebtes und letztes Bühnenwerk, dass 1895 in London eine umjubelte Premiere erlebte, für seine beste Komödie. Und tatsächlich kommt hier alles zusammen, was den britischen Autor ausmacht – geistreiches Geplänkel, scharfzüngige Dialoge, lässige Bonmots und originelle Figuren. Wilde lässt alles aufmarschieren, was die gekünstelte britische Oberschicht an Klischees zu bieten hat, von den dandyhaften Hauptpersonen über die zynische, wenn auch höchst attraktive tante („Ich finde, es ist an der Zeit, dass Mr Bunbury sich mal entscheidet, ob er leben oder sterben will. Das ewige Hin und Her in dieser Angelegenheit ist doch zu albern“) bis zu ihrer intellektuellen Tochter Gwen und dem arroganten Butler Eine gute Wahl traf Regisseurin Beatrice Murmann mit dem Stadtbad Steglitz als Aufführungsort; der morbide Jugendstil-Charme des Gebäudes ist ein großartiger Kontrast zum geschliffen-ironischen Ton der Salonkomödie und ihrem mondänen Personal. Mehrfach wird die Kulisse gewechselt: Nach einer kurzen Anfangsszene im gemütlichen Café Freistil verlagert sich das Stück in die Nähstube im ersten Stock, mit Tisch und Sessel sowie Spitzenvorhang und Jagdgemälde als Junggesellenwohnung eingerichtet; nach der Pause geht es in der ehemaligen Wäscherei weiter, wobei der geflieste Raum voll genutzt wird – auch die Wendeltreppe und das große Fenster, durch das die getäuschten Damen ihre bußfertigen Männer am Ende überlegen beobachten.

Den Darstellern merkt man die Lust am Verwechslungsspiel und an den brillianten Dialogen in jeder Sekunde an. Allen voran Rob Wyn Jones als Algernon, der mit seinen grauen Locken über dem Rüschenkragen schon optisch wie ein Doppelgänger seines Erfinders, des Salonlöwen Oscar Wilde, wirkt. Den ernsteren Gegenpart John gibt Yuri Garate in einem originellen Kostüm mit Pumphöschen und, je nach Anlass, weißen oder schwarzen ledernen Sockenhaltern (Kostüme Martina Baist). Beherrscht, elegant und sarkastisch meistert Julia Thurnau ihre überaus dankbare Rolle als bissige Lady Bracknell, während Lars Kalkbrenner aus seinen kurzen, aber wirkungsvollen Auftritten als respektloser Butler bzw. schüchterne Gouvernante alles herausholt. Ein rundum gelungenes, mit leichter Hand und viel Geist inszeniertes Theaterstück, das die Gesellschaft als Komödie zeigt.

Anouk Meyer

 

zitty 05/2011: Wie man Wünsche beim Schwanz packt

Parcourtheater

Beatrice Murrmanns Figuren wollen sich amüsieren - eine exzessive Suche nach dem kleinen Glück, nachts in Berlin. Der Zuschauer durchschreitet eine surreale Collage aus Theaterspiel, Videokunst, Musikkomposition und Gedichten.

Wenn Genies das Metier wechseln, entsteht nicht unbedingt gleich ein geniales Werk. Das beweist Pablo Picassos Theaterstück, das er Anfang der 40er Jahre in Paris in drei Tagen herunter schrieb, eine Übung in der gerade modernen Methode der Écriture automatique. Der Malerfürst entwarf einen pikanten erotischen Reigen, ein Rätselspaß für sublime Kenner, die Beziehungen zwischen Personen aus Picassos damaligem Umfeld und Stückfiguren wie Klümpchen und Zwiebel, den Wauwaus sowie der fetten und der mageren Angst herstellen können. Alle anderen haben weniger Genuss und müssen sich mit einer erstaunlich plumpen Erotik aus männlicher Sicht zufrieden geben.

Regisseurin Beatrice Murmann hat sich dennoch an den Stoff herangetraut und ihn in ein recht beachtliches Parcourstheater überführt. Das Publikum schlendert durch diverse Räume der zweistöckigen Galerieetagen in der Spandauer Straße. Acht komplett in weiß gekleidete Spieler zeigen in szenischen Miniaturen alltägliche Streits um Geld, Respekt und Bedürfnisbefriedung, mal verstricken sie sich in Zärtlichkeiten miteinander, dann wieder fliehen sie voreinander. Weil man selbst in Bewegung bleibt und im Antlitz des Mitpublikums die schwankenden Zustände von Vergnügtsein, Irritation und völliger Verständnislosigkeit beobachten kann, ist der Abend sogar kurzweilig.

Womöglich wäre es noch ein wenig abwechslungsreicher gewesen, das Ganze gleich in der Liegesofa-Abteilung des vor kurzem noch in diesen Räumen beheimateten Möbelhauses zu inszenieren. Jetzt geben die kahlen weißen  Wände dem Spektakel eine White-Cube-Anmutung, was ja für den Künstler Picasso ganz treffend ist. Als Gewinn kann man die an Metaphern aus Küche und Garten reiche Sprache Picasso mitnehmen; herrlich sinnliche Eindrücke über das Aroma von Früchten und die Konsistenz des Fruchtfleischs. Ein wackerer Versuch, ein nicht zu Unrecht selten gespieltes Stück aufzuführen.

Tom Mustroph

 

Neues Deutschland 16.02.2011: Wie man Wünsche beim Schwanz packt

Obsessionen

Es macht einfach nur Spaß zuzusehen. Temperamentvoll gespielte Szenen, die ins Surreale gleiten manchmal fast erschreckend emotional sind, in denen plötzlich der Vernunft das Wort geredet wird, die aber gleich danach wieder im Chaotischen zerfließen. Auch die Figuren in dem von Beatrice Murmann in den Galerieetagen in Mitte inszenierten Stück „Wie man Wünsche am Schwanz packt“, das Pablo Picasso 1941 in Paris schrieb, schwanken zwischen ganz typisch wirkenden Menschen , völlig triebhaft gesteuerten Wesen und liebenswerten verträumt-verspielten Gestalten. Sie torkeln durch die Zeit und sind sich ihrer selbst nicht gewiss.

Wir tendieren dazu, unser Wohlbefinden an Dingen festzumachen, zuweilen aber „schießt“ das Unbewusste hier quer, weil die Gefühle etwas anderes wollen als die Ratio es gerade für richtig hält, und schon stehen wir mit uns selbst oder der Umgebung in Konflikt. Genau dies ist Thema des Stückes, das auch – ohne das dies gesagt wird – für etwas weniger Ego und etwas mehr Solidarität plädiert und so durchaus auch einen politischen Aspekt birgt.

Gespielt wird in zwei Etagen, die Zuschauer begleiten die Schauspieler durch diverse Räume, was das Spiel noch aktiver erscheinen lässt. „Wie man Wünsche am Schwanz packt“ hat keine geradlinige Handlung, besteht aus Szenen, die zusammenhängen, aber keine zwingende innere Ablauflogik haben.

Die Begriffe Erotik, Obsessionen, Identität, Gefühl und Sprache werden von Murmann und der 20-köpfigen Compagnie Enkidu-Events kontextuell gepackt und vermitteln so ein Bild des Daseins als Odyssee.

Unter den vielen schönen Szenen beeindruckt besonders diese: ein Mann liegt mit dem Oberkörper nach oben auf einer Treppenstufe und wird von den Frauen bewundert. Ihre Verehrung drücken sie in einer Metaphern-Sprache aus, die an das Hohelied Salomons erinnert. Was anfänglich noch schön, hehr und dadurch ein klein wenig einschüchternd klingt, wirkt plötzlich wegen des zunehmend gesteigerten Pathos` nur noch lustig und wirft so Blicke auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Fühlen.

„Wie man Wünsche am Schwanz packt“ ist ein lebendig gespieltes Stück, das viel über das Unbewusste erzählen kann.

Robert Meyer

 

Proud Magazine, Februar 2011: Wie man Wünsche beim Schwanz packt

Das hirnverbrannte Karussell meiner innersten Wünsche

Ein Picasso als Theaterstück in Berlin Mitte

Impulsiv, provokativ und überraschend anders. Pablo Picassos Theaterstück „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“ wird derzeit in den Galerieetagen in Mitte gespielt und schickt das Publikum auf eine Reise in das Unterbewusste. Regisseurin Beatrice Murmann inszeniert das Stück auf zwei Etagen und insgesamt 900m2. Ungewöhnlich: das Publikum begleitet die Schauspieler dabei von Szene zu Szene durch die Galerie.

Wir sehen Picassos triebhaftes Alter Ego „Plumpfuss“ im Zusammenspiel und inneren Konflikt mit verschiedenen Archetypen und Projektionen seiner Selbst. Der Trieb ist dabei die zentrale Kraft, dem sich alle Figuren unterwerfen und an dem sie immer wieder scheitern. Desillusioniert und sich der Tragik ihres Strebens nach dem kleinen Glück bewusst.

Seine suggestive Bildästhetik verdankt die Inszenierung vor allem den Kostümen von Martina Baist, die auch eine der Videoinstallationen schuf. Sie schafft es durch ihren modernen Stil das Stück von 1941 in die heutige Zeit zu versetzen. Picasso beschreibt darin keine fortlaufende Handlung, sondern rein instinktive Empfindungen. Das gefühlte Wort; irrational und assoziativ. Dieses surrealistische Kopfkino an der Schnittstelle zwischen Leidenschaft und krankhafter Obsession lässt seine innere Zerrissenheit an vielen Stellen deutlich werden. Die „ohrenbetäubende Harmonie des überrumpelten Schweigens“. Mit jedem Raumwechsel in den Galerieetagen öffnet sich eine weitere Tür zu Picassos Unterbewusstsein. Plumpfuss selbst beschreibt es gegen Ende der Aufführung als „das hirnverbrannte Karussell meiner innersten Wünsche“. Und das Publikum fährt mit.

Der 20-köpfigen Compagnie Enkidu gelingt mit „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“ eine faszinierende und außergewöhnlich intensive Inszenierung über das Surreale. Wie viel Picasso steckt in mir?

Bis zum 27. Februar 2011 kann man sich davon ein eigenes Bild machen. Bewusst und unterbewusst.

Anne Eger

 

Ostsee-Zeitung, 15.07.2008: Haltestelle.Geister

Knall-Pointen und Verbalerotik

Frecher Großstadt-Slang, geistreiche Knall-Pinten und perverse Verbalerotik. Das alles bot die Trash-Oper „Haltestelle.Geister.“

Sassnitz. Harmlos sieht sie aus, die Kurmuschel. Aber das täuscht. Kaum einer spürt die Gefahr. Dabei muß es ein Riesen-Fisch sein, dessen Flosse da aus dem Meer ragt, bevor er alles mit sich in die Tiefe reißt. So klamm wurde einem plötzlich bei einer außergewöhnlichen Theaterpremiere am Sonnabend. Ein unsicherer Ort. Die Sommerfrischler auf den Zuschauerbänken konnten sie riechen, die Bestie Mensch, die sich plötzlich, im zweiten Teil, schwarzbemantelt aus ihren Sitzreihen erhob.

„Haltestelle.Geister“ ist ein Stück des Kultautors Helmut Krausser. Eine Nacht ist es, an einer Bushaltestelle. Erst kommt kein Bus, später ist es eine Geisterbahnfahrt. Vorher aber ist da ein Hereinbrechen und Wegstürzen, kein Kommen und Gehen nur, von ganz normalen Außerirdischen unserer Gesellschaft, die sich hinter ihren zwanghaften Ticks wie hinter einem Seelenpanzer verkriechen. Scheinbar zufällige Begegnungen sind das, Feindberührungen mit menschlicher Niedertracht, Drogenumschlag, alles oberflächlich, haarsträubend, irre – total durchgeknallt. Allesamt scheinen sie hängen geblieben zu sein auf ihrem letzten Trip. Ganz kurz sind sie mal ruhig und normal, schön sogar, als Rico, Mittelpunkt der zusammen gewürfelten Gesellschaft, eine Runde „Mickeys“ schmeißt, die grünen Glücksbringer, auf die sie alle scharf sind.

Und dennoch entsteht am Ende etwas wie Zusammengehörigkeit, es wird sogar ein bisschen kuschelig, als die, die den Abend nicht überleben werden, zusammenrücken, sich beim Sterben zusehen und sich auch darüber noch lustig machen.

Das Stück ist ein Sprach-Konvolut menschlicher Abgründe. Ein starker Text. Frecher Großstadt-Slang. Es hagelt geistreiche Knall-Pointen, Sinnakrobatik und perverse Verbalerotik. Sehr komödiantisch auch. Dabei waren die Schauspieler weit davon entfernt, ihre Figuren zu karikieren.

Regisseurin Beatrice Murmann beweist sagenhaftes Talent für Rhythmus und Pointe. Die Ticks und Spinnereien der 15 Egozentriker, der pointierte Text und die Brüche durch einige gut gesetzte Gesangs- und Tanzeinlagen, erforderten präzises, punktgenaues, aufeinander abgestimmtes Spiel. Veranstalten für dieses Theatererlebnis des Berliner Theaterprojekts Enkidu Events war der Verein Mehrgenerationenhaus Sassnitz Grundtvighaus. Mutig, sich mit anspruchsvollem Theater neben die Hafentage zu setzen. Gestört hat er nicht, der Rummel am anderen Ende der Stadt. Und die Kurmuschel steht auch noch.

Juliane Voigt

 

Zeit online, Tagesspiegel am 30.04.2008: Haltestelle.Geister

Harte Schale, weicher Kern. Die Figuren in Helmut Kraussers „Haltestelle. Geister“ trumpfen auf, sind aber zerbrechlich. Den Zuschauer erwarten schnelle Szenen, durchgeknallte Typen und perverse Sprüche, die garantiert nicht jugendfrei sind.

Eine Begegnung im nächtlichen Berlin: Ein junges Mädchen, das sich für eine Prinzessin hält, und ein Imbissbudenbesitzer treffen an einer Bushaltestelle aufeinander. Der Ton der Unterhaltung ist rau – ein Schutzmechanismus, denn eigentlich sehnen sie sich nach Liebe und Geborgenheit. Auch die drei frechen Gören, die cool sein wollen, aber billige Drogen nehmen, sind weder zu Empathie noch sozialem Verhalten fähig. Dem alten, vermeintlich reichen Mann, rauben sie sein Geld, obwohl er nur etwas Freundlichkeit möchte. „Ich bin nicht reich, aber du bist arm“, klagt der Mann eines der Mädchen an.

Arm sind die Figuren tatsächlich, die die Regisseurin Beatrice Murmann und der Dramaturg Alf Dobbert in dem Stück „Haltestelle. Geister“ von Hellmut Krausser auf die Studiobühne der FU schicken. Ziemlich verblödet wirken die meisten, alle leiden unter Zwangsstörungen absurden Ausmaßes, die recht dick aufgetragen werden. Ein sparsamerer Einsatz hätte wohl auch funktioniert. Immerhin: Die Tics führen vor Augen, dass diese unwirschen Figuren im Abseits stehen, dem existentiellen Abgrund nahe sind.

Das zunächst kleinteilig aufgebaute Stück gibt jeder Begegnung ihren eigenen Platz. Die schnellen Wechsel unterstreichen das Unstetige, das Vage. Langsam legt sich jedoch ein Netz auf die aus allen Schichten stammenden Protagonisten, wickelt sie ein und erzeugt Zusammengehörigkeit. Der gemeinsame Nenner ist größer als erwartet.

Der Dealer im Mittelpunkt der Gesellschaft

Dabei dreht sich das Personenkarussel um den charismatischen Dealer Rico (Oliver Kube), der zwar die Grundregel des Drogenhandels „never get high of your own supply“ ignoriert, jedoch aber auch ordentlich aufdrehen kann. Dass seine weiblichen Kunden die bunten „Glücksbringer“ mit Naturalien bezahlen, weist er – mit einer Ausnahme – zurück: „Nur von Frauen wird der Ofen auch nicht warm.“

Rico ist der Fixpunkt in einer gesellschaftlichen Sphäre, in der die Menschen der Realität entfliehen wollen. So wie der Online- Chater, der enttäuscht ist, das seine Internet-Eroberung zum ersten Date nicht auftaucht. Willkommen in der Wirklichkeit. Es ist das Zerrbild einer kranken Gesellschaft, in der man zwar miteinander spricht, sich aber nicht versteht. Die provozierend perverse Verbalerotik eines Paares, das mit seinen sadistischen Fantasien sämtliche Grenzen des guten Geschmacks weit hinter sich lässt, beweist das.

Die Kulisse in der Studiobühne vermittelt Zeitlosigkeit, die Szenen könnten in jeder Großstadt spielen. Der Boden ist weiß, die Decke ist weiß, die von Ricky Schuchmann entworfenen Kostüme sind weiß – und transparent. Die falsche Maskerade und das aufgesetzte Gehabe werden dadurch, für jedermann sichtbar, zu dem, was sie sind: Eine durchsichtige Strategie, ein Zeichen der Hilflosigkeit in einer Gesellschaft, die verlernt hat, mit Gefühlen umzugehen.

Erst im Jenseits reift die Erkenntnis

Immer wieder durchbrechen kleine Revueeinlagen den Handlungsstrang, den per Videoprojektion eingeblendete Requisiten visuell unterstreichen.: Da platzt ein rettendes Schiff in die Szenerie, dessen singende Matrosen Seefahrerromantik und ferne Idylle versprechen. Eine Illusion, die, wie der Tanz einer Seifenblase, nur von kurzer Dauer ist. Da wiegen sich die Personen im Dreivierteltakt des Walzers als gäbe es kein Morgen. Da mündet das süße Gesäusel in eine Hitlerparodie. So offenbart sich eine Welt, in der sämtliche Maßstäbe verloren gegangen sind.

Erst als die Protagonisten mit blutigen Händen nach und nach im Jenseits landen, sehen sie die Möglichkeiten, die das Leben bietet. Zu spät. Verpatzt. Während sie das wirre Treiben und die sinnlose Rastlosigkeit aus der Distanz beobachten, versuchen sie, Einfluss zu nehmen :“Du lebst, du Trottel, mach was draus!“ Doch ihre Worte verschallen ungehört und die Angesprochenen sind zur Veränderung nicht fähig.

Bei dem überraschenden Eingriff aus dem Off veranschaulicht Edgar Wintersperger, wie grandios man Bühne nutzen kann – erst im Publikum, dann auf der Bühne, rechts, links, drinnen draußen. Und er demonstriert zugleich, dass es aus der Mutlosigkeit und Fixiertheit auf das Ego, die die Protagonisten wie eine Lähmung umschließt, kein leichtes Entkommen gibt.

Sebastian Bühner

 

Prinz 06.2003: Schoepfung

Aufführungen des Monats: Theater auf dem Nullpunkt in „Schoepfung“

Sieben Tage, achtzehn Köpfe

Sieben Tage brauchte Gott um die Welt zu erschaffen. Sieben T age an denen er vermutlich rund um die Uhr vor seiner Kreation brütete um das darauffolgende Chaos zu gewährleisten. Inspiriert vom Mythos der Schöpfungsgeschichte fragten sich Regisseurin Beatrice Murmann und Ausstatter Mirko Hinrich: Was kann ein Mensch in dieser Zeit erschaffen? Und machten die Probe aufs Exempel. 16 experimentierfreudige Kunst- und Kulturschaffende scharen sie um sich die bereit sind sich eine Woche lang in geschichtsträchtigen Raum dem ehemaligen Atelier von Starfotograf von Jim Rakete einschließen zu lassen um ein Theaterstück zu entwickeln.

Was hier ein wenig wie ein theatrales „Big Brother“-Projekt anmutet geht doch von ganz anderen Voraussetzungen aus. Nicht dumpfes zwischenmenschliches Geplänkel steht hier im Vordergrund sondern die Verschmelzung von Werten die sonst kaum miteinander in Berührung kommen. Da trifft Theaterfotograf David Baltzer auf Schauspielgröße Isabell Varell. Musiker Christian Messer komponiert den Soundtrack zu Matthias Fischers Drehbuch und der mit inhaftierte Koch darf die Kreativen verköstigen. „Unsere Ausgangsbasis ist Punkt Null. Jeder von uns hat uneingeschränkte kreative Freiheit auf seinem Gebiet“ bekräftigt Beatrice Murmann. W“as entsteht ob Chaos oder Geniestreich ist unerheblich.Einzig allein der 7-tägige Entwicklungsprozeß zählt. Und den zu verfolgen ermöglicht allen interessierten Visionären das Internet via Live-Streaming. Einloggen statt abschalten.

Prinz-Fazit: Theatrales Experiment mit ungewissem Ausgang „Schoepfung“ alle Infos auf der Website: 24-Stunden-Live-Streaming, ab 22. bis 29.6. www.schoepfung.com

 

Märkische Allgemeine 25.10.2002: Birdsong

Dunkles Gezwitscher im Bastard — Nacht ohne Notausgang

Es zwitschert so lieblich, doch von woher? Der Prenzlauer Berg gilt als Berlins Biotop für schräge Vögel. Bier, Zigaretten, mehr brauchen die Nachteulen nicht. Sie artikulieren sich mit 200 Beats pro Minute, fuchteln aufgeregt mit eitlem Gefieder, doch tirilieren, nein, das können sie nicht. Der kehlige Gesang kommt vom Tonband, kündet von einem sonnensatten Frühlingstag und ist doch nur die Ouvertüre zu einer mondlosen Theaternacht im Berliner Szeneclub Bastard.

James Saunders` wahnwitzige Suada „Birdsong – Vogelgezwitscher“ – bricht der Spaßgesellschaft das Kreuz, sie unterbindet mit ihrer atemlosen Schlagzahl jegliches Luftholen. Denn dem Autor – und mit ihm der Bastard-Regisseurin Beatrice Murmann – ist es ernst: Er will amüsierwütigen Traumtänzern den Saft abdrehen; all diesen Theoretikern des Glücks, die ihr Ego mästen mit allem, was die magere Sinnsuche im engen Kreis der Tanzfläche zu bieten hat.

Das Ensemble hockt als Federvieh in Käfigen, verhängt mit grellen Baustellenband – hüben Tinker (Ian Dickinson) und Joey (Thorsten Junge), drüben eine entrückt tanzende Hupfdohle (Nina Poethen). An den Musikreglern steht ein Mann mit ärmellosem Shirt, Lederhose und cooler Kappe, der dem Ort seine Bestimmung um die Ohren haut: wabernde Bässe, schrille Höhen, hier regieren die Extreme der Clubkultur.

Das Publikum geht im rötlich ausgeleuchteten Raum umher, muss die Bänder der Käfige beiseite drücken, um dem Schauspiel zu folgen. Tinker und Joey hocken in ihrer trendgerechten Abendgarderobe wie die Vögel auf der Stange, balzen mit den Armen, hüpfen auf der Stelle und kommen doch nicht vom Fleck. Über relative und absolute Freiheit philosophieren sie und über das dräuende „Draußen“, alles im hysterischen Ton der geschlossenen Anstalt – in diesem Falle dem Zentrum des Nachtlebens: der Diskothek.

Die beiden verklären ihre Gefangenschaft zum Schutz vor Unwägbarkeiten und Desorientierung. Dickinson und Junge stammeln ihre Texte in bravourösem Staccato und im Schweiße ihres vom Wahn gezeichneten Angesichts. Als sich die Vogelfrau Trixie (Julia Thurnau) zu ihnen gesellt und aufbegehrt, sie möchte „nicht über Freiheit reden, sondern sie erleben“, fühlen sich die Männer zum Morden der Rebellin genötigt.

Enorm, mit welch unbändiger Energie sich die jungen Schauspieler der Wut des Stückes stellen. Ein bühnentechnisch vertracktes Drama zumal, das auch als Hörspiel durchginge, doch hier pointensicher in die räumliche Enge getrieben wird. Wo ist der Notausgang? Es gibt keinen.

Lars Grote